"Saisonschluss" (Kurzgeschichte von 2004)

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koralle1971

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"Saisonschluss" (Kurzgeschichte von 2004)

von koralle1971 am 04.05.2011 18:07

Saisonschluss

Die Augen ganz fest zumachen und dabei mit den Fingern leicht auf die Lider drücken – das hat Jule schon als Kind gern getan. Die Welt beibt draußen, während tief in ihr drin leuchtende Punkte tanzen. Wie in einem Kaleidoskop, in dem sich bei der kleinsten Bewegung aus bunten Glassplittern mosaikartige Muster bilden.

Pauls Augen sind noch geschlossen. Jule rührt sich nicht, denn sie will ihn nicht wecken. Gleichmäßig atmend liegt er neben ihr in dem durchgelegenen Pensionsbett. Der Morgen wirft bleich sein Licht auf den schiefergrauen Boden und durch einen Spalt zwischen den Gardinen sieht Jule das Wolkenwatt des Himmels gleiten. Paul träumt. Jule beobachtet, wie sich seine Augen unter den hellen Lidern bewegen. Er sieht so verletzlich aus. So, wie sie ihn sich immer gewünscht hat. Sein Gesicht, das in den letzten Tagen oft angespannt aussah, wirkt jetzt konturlos wie der Strand am Morgen, geglättet vom Wind der Nacht. Zwischen zwei Schlafanzugknöpfen quellen ein paar feine Haare hervor, gleichmäßig hebt und senkt sich darunter seine milchweiße Brust. Vorsichtig drückt Jule ihm einen Kuss auf die Lippen, die nach Schlaf und Abschied schmecken, ein wenig pelzig. “Morgen, Du Schlafmütze. Wollen wir im Bett frühstücken?” Paul dreht sich zur Seite und schiebt den Unteram vors Gesicht. “Nein, das gibt nur Krümel und die pieken“, knurrt er. Seine Stimme klingt dabei kratzig wie die Wolldecke, die Jules Vater noch aus seiner Bundeswehrzeit aufbewahrt hat.

Kaum merklich haben sie sich voneinander entfernt. Das, was sie verbunden hat, war langsam, Masche um Masche, wie von einer Stricknadel gerutscht und hatte sich aufgeribbelt. „Ich will weg“, hatte Jule sich gewünscht und Paul einen buntbebilderten Prospekt in die Hand gedrückt, der ihr aus einer Frauenzeitschrift entgegengefallen war. „Auszeit vom Alltag“, stand darauf. Gelb und rot spannten sich die Buchstaben als gestreifter Sonnenschirm über das glitzernde Blau der Ostsee. „Werbung“, hatte Paul abfällig geschnauft. „Nichts als leere Versprechungen. Die Wirklichkeit sieht sowieso anders aus.“ „Und wenn doch was Wahres dran ist?“ hatte Jule zurückgefragt und kurzerhand diesen Wochenendurlaub gebucht.

Als Jule die Vorhänge aufzieht, kann sie das Meer sehen. Hart und grau wie die Gehwegplatten, auf denen Jule sich als Kind oft die Knie aufgeschlagen hat, liegt es auf der Straßenseite gegenüber der Pension „Daheim“. „Familiäre Atmosphäre“, hatte es in der Anzeige gehießen. Nun sitzen sie fest in einem Zimmer wie für Blinde: Keine Bilder an den Wänden, die Möblierung karg, als wenn man sicher gehen wollte, dass sich niemand an etwas stößt. Keine Herzkammer zum darin Überwintern. Durch das Fenster starrt müde der September.

Nach dem gutbürgerlichen Frühstück spielen sie im Aufenthaltsraum „Mensch ärgere Dich nicht.“ Eigentlich wäre Jule viel lieber an den Strand gegangen, eine Thermoskanne Tee und Äpfel im Rucksack, um sich Hand in Hand mit Paul vom Wind in den Haaren wühlen zu lassen. „Besser nicht, es sieht nach Regen aus!“, hatte Paul eingewandt und stattdessen zielstrebig das Fernsehzimmer angesteuert. Der beigefarbene Würfel klackert über das Spielfeld, kullert über vergilbtes Leinen, bis er still liegenbleibt. Mehrmals hat Jule die Gelegenheit, Paul rauszuwerfen, aber sie tut so, als würde sie es nicht bemerken. Er ist nicht recht bei der Sache, wie Staub klebt er in der Ritze des mit olivgrünem Breitcord bespannten Sessels und verfolgt aus den Augenwinkeln ein alte Fernsehserie. Jule kennt das alles. Die Episoden werden seit Jahren in einer Art Endlosschleife wiederholt.

Am Nachmittag lassen sie das Auto vor der Tür stehen, um doch noch spazieren zu gehen. Jule trägt die klobigen, dunkelblauen Gummistiefel, die sie sich im Schlussverkauf besorgt hat. Paul hastet mit langen Schritten voraus. “Warte doch mal,” keucht Jule. “Die verdammten Schuhe passen nicht. Außerdem krieg’ ich kalte Füße.” Unwillig bleibt Paul stehen. Seine Haut erinnert an Lübecker Marzipan, sie ist hell und ebenmäßig. Wenn er sich ärgert oder verlegen ist, wird er schnell rot. Das hat Jule von Anfang an gefallen. Auch jetzt ist Pauls Gesicht gerötet. Aber das kommt vom schneidenden Wind. Keine Gefühlsregung kann Jule daran ablesen. Einfach gar nichts. “Ich friere”, sagt Jule und vergräbt ihre rechte Hände tief in der Tasche von Pauls abgewetzter Lederjacke, die er sich für den ersten Auftritt mit seiner Band gekauft hat. Tastend bewegt sie ihre Finger darin, als würde sie etwas suchen, das sie nicht findet. Ein Geldstück, einen Fahrschein vielleicht.

Der Himmel hält sich bedeckt, die Strandkörbe sind von wuchtigen Holzgittern verschlossen. Paul verschränkt seine Arme vor der Brust, so dass es Jule zu eng wird und sie ihre Hand wegziehen muss. Ein paar Geschäfte haben ihre Rollläden heruntergelassen und durch die Fußgängerzone schlendern kaum noch Menschen. Plötzlich fällt etwas Nasses auf Jules Wange, feiner Sprühregen, der immer dichter wird. Bald prasseln schwere Regentropfen auf das Plastik der Caféstühle, die mit ihren Lehnen halb über die Tische gekippt sind. Beim Aufklatschen bilden sich feine Ringe, aus deren Mitte das Wasser aufspritzt, bevor sie sich auflösen. „Komm schnell“, sagt Jule und zupft Paul am Ärmel. „Dort drüber ist ein Andenkenladen.“ Schützend breitet Paul seine Jacke über Jules Kopf, als sie gemeinsam in das Souvenirgeschäft flüchten.

In den handtuchschmalen Gängen, eingezwängt zwischen Getränkedosen und Handwaschpasten, stapeln sich Erinnerungsstücke: Silbrige Seehunde, deren Fell weich die Handinnenflächen kitzeln, muschelbesetzte Kästchen mit rotem Samtfutter, getrocknete Seepferdchen und Holzfischkutter. Es dauert eine ganze Weile, bis Jule in der hintersten Ecke des Ladens einen Pappkarton mit ausrangierten CDs bemerkt. „Guck‘ mal Paul, weißt Du noch?“ Begeistert fischt Jule eines der Plastikquadrate heraus. „Ein Live-Mitschnitt von dem Konzert, bei dem wir uns zum ersten Mal geküsst haben!“ „Stimmt“, entgegnet Paul flüchtig, „aber den haben wir doch schon.“ Jule schiebt die CD zurück in die Kiste. Dann greift nach einer großen, schillernden Muschel, orangerosa wie die Teetasse, die bei der Arbeit auf ihrem Schreibtisch steht. Versunken hält sie die perlmutterne Schale an ihr Ohr und horcht auf die tosende Brandung. Aber sie kommt nicht von der Ostsee. Das Meer ist in ihr. Wellige Weite, Stärke ohne Horizont, sonnengesprenkelte Leidenschaft. Was sie hört, ist sie selbst.

Als sie aus dem Geschäft treten, flackern hinter den Fassaden der Häuser die ersten Lichter auf. Ohne ein Wort stapfen Jule und Paul an der Uferpromenade entlang. Ein scharfer Wind schneidet ihnen ins Fleisch und Jules Augen fangen an zu tränen. Hinter den Fenstern kann sie sehen, wie ein älterer Mann im Schein einer Leselampe liest, während der Fernsehschirm rhythmisch vor sich hinzuckt. Nebenan brät eine braunbekittelte Frau Bratkartoffeln. Wie in einem Film kann Jule beobachten, was in den Wohnungen geschieht. Bilder eines fremden Lebens überblenden ihr eigenes, lassen die Gegenwart unscharf werden. Sekundenlang fühlt sie sich in den seltsam unwirklichen Schwebezustand versetzt, der sie manchmal nach dem Kino befällt. Der Abspann läuft, es ist noch dunkel. Gleich wird sie mit blinzelnden Augen im Hellen stehen, sich räuspern und nicht wissen, was sie sagen soll. „Sonderangebot”, steht an den grell erleuchteten Schaufenstern eines Modegeschäfts. Hinter der Aufschrift locken, herausfordernd auf rotlackierten Holzstufen ausgebreitet, seidene Nachtwäsche, transparente Morgenmäntel und Spitzendessous. “Jetzt wird’s billig. Greifen Sie zu!”

Zurück im Zimmer steht Paul plötzlich hinter ihr, drückt sein Kinn auf ihre Schulter und legt die Arme um ihre Hüften. Seine Hände ruhen auf ihren Beckenknochen, vertraut wie ihre Lieblingsjeans, und Jule spürt, wie sein Atem über ihre Nackenhaare streicht. Jule schließt die Augen und lässt sich wegspülen. Sie versucht noch einmal, die Grammatik von Pauls Körpers zu lesen, aber da ist nur noch ein Kreuzworträtsel aus hartbespannten Muskeln, Sehnen und Knochen, das sie nicht lösen kann. Seine Haut ist eine trennende Wand, weiß wie Schnee, rein und kantenlos, das Herz daruntergekehrt wie unter einen Schweigeteppich. Dabei ist das Schönste eines Menschen doch sein Inneres, ähnlich wie das Perlmutt in einer Muschel, denkt Jule. Als sie später durch ihre halbgeöffneten Lider blickt, ist sie allein. Ausgespuckt vom Mund der Nacht. Mondlicht zerteilt das Zimmer in zwei Hälften. Nebenan klatschen Pauls nackte Fußsohlen über die Fliesen des Badezimmerbodens. Wasser rauscht aus dem Hahn, der metallene Handtuchbügel quietscht leise, als er sich abtrocknet. Das war der große Unterschied: Für Jule war Liebe das Fell eines Kaninchens. Für Paul dagegen der Schrei, der von den Wänden widerhallt. Sex konnte den Riss, der zwischen ihnen klaffte wie die Ritze des Pensionsbetts, nicht mehr kitten.

“Alles muss ‘raus!” steht in grellroten Lettern auf einem Plakat am gegenüberliegenden Bahnsteig. Jule sitzt auf einer zerkratzten Holzbank auf Gleis 1 und umklammert die Postkarte, die sie eben am Kiosk gekauft hat. Aus dem Fußgängertunnel fluten Stimmen und Stiefeltritte hinauf. In wenigen Minuten wird der Zug einfahren. Die Schienen beginnen schon zu vibrieren, zu summen. Immer lauter wird das metallische Trommeln und Klopfen. Jule nestelt nervös an der bunt bedruckten Pappe in ihrer Hand. In ihren Ohren brandet wild das Blut. „Abstand halten!“ scheppert es aus aus dem Lautsprecher und Jule springt auf. Vom Horizont schießt eine dunkle Kugel mit Lichtern heran, wird größer und schärfer. Jetzt! denkt sie und schiebt die Karte eilig durch den Schlitz des Bahnhofbriefkastens. Morgen, wenn Paul zuhause ankommt, wird er sie zwischen seiner Post finden. Gelbe und rote Buchstaben über leuchtend blauem Wasser, das bekannte Motiv. Doch den zweiten Teil des Textes hat Jule mit schwarzem Filzstift durchgestrichen. Nur ein einziges Wort ist davon übrig geblieben, eigentlich ein Anfang: „Aus“.

Mit quietschenden Bremsen kommt der Zug zum Stehen, seufzt zischend auf, die Türen gleiten auf. Eine weiße Plastiktüte trudelt über den Bahnsteig, leer und unbeschwert, als wäre sie eine Möwe. Mit einem Ruck fährt der Zug an. Vor dem Fenster fliegen Bäume, Häuser und Wiesen vorbei, verwischen sich mit steigendem Tempo zu einem bunten Band. Jule lehnt sich zurück und atmet tief durch.

Ihre Augen sind weit geöffnet.

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WinterMoon
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Re: "Saisonschluss" (Kurzgeschichte von 2004)

von WinterMoon am 04.05.2011 18:41

eine projektion wie sie besser ncht hätte sein können!!!!

da ich dem rest nciht verweg nehmen will was es mit alle dem auf sich hat sag ich nur ich liebe diese geschichte

wenn ich mich nicht irre hast du sie uns mal vorgelesen (sag wenn ich da was verwechsel)

aber wie dem auch sei

einfach grandios...

erinnert mich an "JETZT" ;)

frosty dark greetz

WinterMoon









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koralle1971

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Re: "Saisonschluss" (Kurzgeschichte von 2004)

von koralle1971 am 04.05.2011 21:30

Hallo Wintermoon,

danke für Dein Kompliment! Da erröte ich ja direkt verschämt...

Ich kann Dir aber auch ein Lob zurückgeben. Du erinnerst Dich nämlich absolut richtig. Ich hab Euch diese Geschichte vor ein paar Jahren mal bei "Alles wird schön" vorgelesen. Und Du hast exzellent aufgepasst: Die inneren Gefühle, die Jule zuerst noch nicht an sich ranlassen kann, werden nach außen in die Handlung projeziert.

Obwohl ich den Text schon 2004 geschrieben habe, hat er jetzt wieder eine gewisse Aktualität für mich. Ist schon komisch, wie einen bestimmte Erfahrungen und Erlebnisse immer wieder einholen und sich wiederholen. Auch das hast Du überaus gut erkannt. Freut mich - ich fühle mich sehr verstanden von Dir.

Liebe Grüße
Koralle

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WinterMoon
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Re: "Saisonschluss" (Kurzgeschichte von 2004)

von WinterMoon am 05.05.2011 09:38

:-) :-) :-) :-) hab ich doch noch einwenig was behalten... denn ich meine die leuchtreklame kam mir beim lesen wieder in den sinn... ja mannchmal im leben hat man wohl hin und wieder ein "deja vué" was dann meistens noch mehr weh tut... aber eines tages geht der schmerz vorbei und man denk sich was solls er war einfach nciht der richtige... männer sind zuweilen einfach seltsam aber darüber haben wir schon geredet... alles was ich sagen kann ist ich drück dich fest und immer da auf eine schöne tasse tee oder am telefon zum reden:)

frosty greetz
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Antworten Zuletzt bearbeitet am 05.05.2011 09:39.

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